Über die Wut von Frauen
"Ein braves Mädchen ist nicht wütend"
Frauen wurden über Jahrhunderte hinweg so sozialisiert, dass sie ihre Wut nicht frei ausdrücken durften. Vielen wurde von klein auf anerzogen: Ein gutes Mädchen ist nicht wütend. Ein braves Mädchen ist lieb, leise, gefällig – angepasst.
Doch Wut ist ein Grundgefühl. In jedem Menschen angelegt – auch in Frauen. Und sie hat eine wichtige Funktion: Sie zeigt uns, wenn eine Grenze überschritten wurde. Sie sagt: Stopp! So nicht! Und sie stellt die notwendige Energie zur Verfügung, uns abzugrenzen, für uns einzustehen, uns zu schützen.
Eine Geschichte der Unterdrückung
Diese Kraft wurde Frauen lange Zeit abgesprochen. Wütende Frauen galten als hysterisch, schwierig, unweiblich. In der Geschichte wurde weibliche Wut unterdrückt, dämonisiert, pathologisiert.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Frauen, die zu laut, zu frei, zu klug waren, wurden schnell zur Bedrohung erklärt. Die Hexenverfolgungen sind ein grausames Beispiel dafür. Und auch wenn diese Zeiten vorbei sind – das kollektive Erbe wirkt nach.
Viele Frauen tragen die Geschichten ihrer Mütter, Großmütter und Ahninnen in sich. Geschichten von Schweigen, sich Fügen, von Gewalt, Ausgrenzung, Entwertung. Vom Kleinhalten und Anpassen.
Wir haben allen Grund, wütend zu sein
Wütend über die Ungleichheit, die immer noch besteht. Über Lohnlücken, Care-Arbeit, sexuelle Übergriffe, Bodyshaming, Victim Blaming, die ständige Selbstoptimierung und den Druck, gleichzeitig schön, erfolgreich, fürsorglich und leistungsfähig zu sein.
Der Schmerz über all das sitzt tief – und darunter liegt Wut.
Doch diese Wut durfte so lange nicht sein, dass sie sich oft nicht mehr klar zeigen kann. Stattdessen taucht sie auf als Gereiztheit, Stichelei, Rückzug oder Nörgelei. Oder sie wird komplett unterdrückt – aus Angst, zu viel zu sein oder nicht mehr gemocht zu werden.
Die Angst vor der Kraft
"Brave Mädchen kommen in den Himmel – böse überall hin" – solche Sprüche ringen mir ein müdes Lächeln ab. Sie verharmlosen eine tiefe kollektive Wunde. Die blockierte Wut und die Angst vor ihrer Kraft brauchen mehr als witzige Sprüche.
Es ist an der Zeit, die weibliche Wut zu entstigmatisieren. Sie zurückzuholen. Zu lernen, mit dieser Energie zu gehen. Uns einzulassen auf das Ungewisse, das folgt, wenn wir Grenzen setzen.
Laut und deutlich zu sagen: Stopp! Ich bin wütend! Ich ärgere mich über dich! So will ich nicht, dass du mit mir umgehst!
Die Wut im Körper spüren
Wut ist nicht nur ein Gefühl – sie ist auch körperlich spürbar.
Fäuste, die sich ballen wollen. Eine Kehle, die sich ausdrücken will. Aufsteigende Hitze, Anspannung im Kiefer, veränderter Atem, pochendes Herz.
All das können wir lernen – mit Achtsamkeit und Körperarbeit.
Manchmal reicht es schon, die Körperreaktionen bewusst wahrzunehmen – ganz ohne Bewertung. Oder wir arbeiten mit gezielten Übungen – z. B. aus der Bioenergetik – um die festgehaltene Energie wieder in Fluss zu bringen.
Wut braucht einen sicheren Rahmen
Wichtig dabei: ohne zu verletzen.
Wut darf kraftvoll und klar sein – aber sie ist kein Freibrief für Angriffe, Anklagen oder Gewalt. Wenn die Energie sich im sicheren Rahmen ausdrücken darf, kann sie sich wandeln. Dann fällt es leichter, die eigenen Gefühle zu kommunizieren – ohne zu verletzen.
Das ist Heilung. Das ist weibliche Kraft.
Ich bin hier
Lasst die Wut uns durchströmen – damit wir unseren Platz einnehmen.
Hier bin ich. Und dort bist du.
Und dann, wenn die Wut sich wandeln durfte, können wir wieder liebevoll und respektvoll auf unser Gegenüber schauen. Klar. Mit wachem Herzen. Und einem gestärkten Selbst.